18
Jan
2008

...

Heute gab es Teil zwei der Geschichtsstunde und der wurde mit einer Publikation der APPO eingeleitet. Wir nahmen uns das Editorial vor und diskutierten dessen Duktus. Anna-Maria war der Auffassung, daß das Heft von den einfachen Leuten, für die die APPO vorgibt sich einzusetzen, nicht verstanden werden kann. Das Editorial war von einem Hochschullehrer geschrieben worden, der einen Rundumschlag machte, von Auschwitz über Hiroschima bis zu kürzlich in Mexiko stattgefundenen Massakern und dabei noch Ideen von Rosa Luxemburg zu Sozialismus und Humanismus mit einfließen ließ. Und hierin lag in Annas Augen das Problem. Die einfachen Leute kannten weder die erwähnten Protagonisten und deren Ideen, noch waren sie über die angesprochenen Ereignisse im Bilde. Es war ihrer Meinung nach ein Text von einem Intellektuellen geschrieben für Intellektuelle. Und somit waren wir dann auch schon bei der Entstehung der APPO und im Mai 2006.

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In Mexiko gibt es zehn bis elf Millionen Lehrer, die in einer sehr mächtigen Gewerkschaft organisiert sind. Diese hat nicht nur wegen ihrer Mitgliederstärke viel Macht, sondern auch weil Lehrer in vielen Orten die einzigen mit höherer Bildung sind. Diese Gewerkschaft hatte lange Jahre mit der Regierung eng zusammen gearbeitet und tut es im Wesentlichen wohl auch heute noch.

Wegen ihrer Größe ist die Gewerkschaft in sogenannte Sektionen unterteilt, die nichts weiter als Verwaltungseinheiten sind. Von diesen Sektionen gibt es in jedem Bundesstaat in der Regel mehrere, in Oaxaca zwei. Nicht alle diese Sektionen stehen allerdings hinter der generellen Linie der Gewerkschaft. Einige von ihnen sind der Regierung gegenüber eher kritisch eingestellt. Hier in Oaxaca ist das die Sektion 22, deren Transparente auf der Demo am Mittwoch immer wieder auftauchten.

Als im Frühjahr 2006, wie die Jahre zuvor, die Lehrergewerkschaft mit neuen Lohnforderungen auf die Straße ging, weigerte sich der Gouverneur mit ihr zu verhandeln. Er schickte eine 3.000 Mann starke, schlecht ausgebildete und kaum ausgerüstete Polizeitruppe ins Feld, um die Demonstrationen aufzulösen. Diese sah sich 70.000 organisierten Lehrern gegenüber und ergriff nach einigen kleineren Gemetzeln zusammen mit dem Gouverneur die Flucht.

Das war der Beginn des Sommers der Anarchie in Oaxaca und die Geburtsstunde der APPO. Anfangs bestand diese im wesentlichen aus Mitgliedern der Sektion 22 der Lehrergewerkschaft. Es schlossen sich ihr aber nach und nach weitere regierungskritische Gruppen an und irgendwann tauchten Leute aus Spanien, Italien und Deutschland auf, die Ideen von Bakunin und anderen Anarchisten mitbrachten.

Währenddessen verhandelte die Zentralregierung mit der Gewerkschaft und gab in den wesentlichen Punkten deren Forderungen nach. Das führte dazu, daß sich die meisten Lehrer aus der APPO zurückzogen und diese nunmehr von kleinen, eher unorganisierten Gruppen getragen wurde. Damit eskalierte auch die Situation in Oaxaca, die Stadt versankt im Chaos, was wiederum der Regierung einen Vorwand zum Einschreiten gab. Konkreter Anlaß soll die Ermordung des New Yorker Fotografen Brad Will gewesen sein, der Annas Auffassung zufolge nicht von Paramilitärs, sondern Mitgliedern der APPO erschossen wurde. Im November 2006 schickte die Zentralregierung die gut ausgerüstete Bundespolizei in die Stadt, um die alte Regierung wieder zu installieren und beendete somit den Aufstand in Oaxaca. Die Bilder von Barrikaden in den Straßen der historischen Altstadt und brennenden Bussen gingen dann um die Welt.

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Wie gesagt, was ich hier wiedergebe ist Anna-Marias Version der Ereignisse oder zumindest das, was ich von ihren Ausführungen verstanden hatte. Ich habe allerdingscden Eindruck, daß sie sehr kritisch der APPO und deren Protagonisten gegenüber eingestellt ist. Bei der Schilderung einiger Begebenheiten, wie der Ermordung Brad Wills, habe ich meine Zweifel, ob ihre Version stimmt. Ich werde auf jeden Fall versuchen noch mit anderen Leuten darüber zu reden.

Später im Büro fragte mich Ariadna, die Koordinatorin der Sprachkurse an der Fakultät, was ich außer Spanisch lerne noch so in Oaxaca machen würde. Als ich ihr sagte, daß ich vor allem auch als Fotograf hier sei und mich schon sehr wohl für die sozialen Konflikte interessieren würde, bot sie an Kontakte zu Leuten herzustellen, die zumindest der APPO nahe stehen.

Bevor ich nun endlich mein Zimmer für den Rest des Monats bezahlen würde, wollte ich noch einmal schauen, ob ich nicht doch noch etwas günstigeres finden könne. Jack, mein Gitarre spielender Cowboy-Nachbar, hatte etwas von Zimmern zwischen 900 und 1.500 Peso erwähnt. Ich ließ mir von ihm die Adresse geben und machte mich am frühen Abend auf den Weg dahin.

Die Calle Moctezuma ging, nicht weit vom Zentrum, von der 20 de Noviembre ab. Allerdings sah es hier schon gar nicht mehr so geleckt aus, wie um den Zocalo herum. Auf dem kurzen Stück, auf dem sich das Haus des potentiellen Vermieters befinden sollte, gab es eine ziemlich abgewirtschaftet aussehende Autowerkstatt und eine Cantina. Gegenüber letzterer kotzte gerade jemand gegen ein dort geparktes Auto. An der Werkstatt stand die Hausnummer, die Jack mir genannt hatte. Nur sah es hier so gar nicht nach dem Patio aus, den er mir beschrieben hatte. Der Autoschrauber, welcher gerade, die Beine hochgelegt, vor sich hin döste, schickte mich zurück in die Richtung, aus der ich kam. Der Eingang neben der Bar sei es, meinte er.

Der Hof, den ich betrat, machte keinen wirklich einladenden Eindruck. Er war dunkel und wirkte eher verlassen. Ich schaute mich um und sah einen älteren Mann auf Krücken, dem das linke Bein fehlte. Ich fragte ihn, ob er Don Jimmy, der Vermieter, sei. Er antwortete, daß Jimmy nach Puebla gefahren sei und in ungefähr einer Woche wieder kommen würde. So lange müsse ich mich gedulden.

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Als ich trotzdem weiter Fragen stellte, besann er sich eines Besseren und öffnete die Tür zu einem Zimmer, das einem Gangsterfilm hätte entstammen können. Es war keine zwei mal vier Meter groß und mit Gerümpel vollgestellt. Auf einer durchgelegenen Couch rekelte sich eine graue Katze. Des weiteren gab es je einem grob gezimmerten Tisch und Stuhl darin. Hier war auch schon eine Ewigkeit nicht mehr sauber gemacht worden. Auf dem Boden lagen überall leere Flaschen herum. Das war aber zum Glück nicht das Zimmer, welches zu vermieten war. Guillermo Coronel, wie der Einbeinige sich nannte, wühlte nur kurz in dem Durcheinander und kam dann mit einem Schlüssel in der Hand zurück zur Tür gehumpelt.

Gemeinsam gingen wir einen schmalen Gang entlang, an dessem Ende sich hinter einer Wellblechwand ein winziger staubiger Innenhof mit einem traurig aussehenden Baum in der Mitte befand. Guillermo drückte mir den Schlüssel in die Hand und meinte, das Zimmer befinde sich die Treppe hinauf in der hinteren Ecke des ersten Stockwerkes. Das Bad sei genau gegenüber.

Das ganze Gebäude war, obwohl es sehr herabgewirtschaftet wirkte, noch die reinste Baustelle. Wie beschrieben, sah ich in der hintersten Ecke zur Linken einen Wellblechverschlag, der wohl das Bad sein solle, und gegenüber in einer kahlen Wand aus Gasbetonsteinen eine nagelneue Holztür. Dahinter würde sich wohl das Zimmer befinden. Ich staunte nicht schlecht, als ich die Tür aufschließ. Was ich zu sehen bekam, ähnelte eher einer Gefängniszelle, denn einem Zimmer, in der ein Mensch leben würde wollen. Auch dieser Raum war kaum größer als zweieinhalb mal vier Meter. Neben einem grob gezimmerten Bett, dessen Matratze nicht gerade vertrauenswürdig aussah, standen noch ein verbeulter blauer Metalltisch und drei nicht weniger abgewitschaftete, dazu passende Stühle darin. Gleich neben der Tür war ein nagelneues, ebenfalls blaues Waschbecken an die unverputzte Wand geschraubt. In der hintersten Ecke des Zimmers befand sich auf etwa zwei Meter Höhe ein winziges Fenster, welches sich anscheinend nicht öffnen ließ. Belüftet wurde der Raum durch ein ca. ein Quadratmeter großes Loch in der Betondecke zum Stockwerk darüber.
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