23
Feb
2008

...

Das Wochenende war recht politiklastig. Am Freitag gab es eine große Demo der Sección XXII, für die ich sogar den Unterricht sausen ließ und am Samstag ein Straßenfest im Parque „El Llano“ mit viel Musik und revolutionären Sprüchen.

Ein Mal im Jahr ziehen die in der Sección XXII organisierten Lehrer durch die Straßen Oaxacas um ihren Lohnforderungen Nachdruck zu verleihen. Das ist ein großes Ereignis, welches mittlerweile schon den Status eines Rituals erlangt hat. Vor zwei Jahren war es Ausgangspunkt für die den Sommer anhaltenden politischen Unruhen in der Stadt.

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Viele der bis zu 70.000 Grund- und Oberschullehrer stehen schon mitten in der Nacht auf und nehmen lange Anfahrten auf sich, damit sie an dem Marsch teilnehmen können. Ich habe mit einem gesprochen, der früh um fünf in der Region des Istmo aufgebrochen ist, um es rechtzeitig zu Beginn der Demonstrationnach Oaxaca zu schaffen.

An vier Stellen am Rande der Altstadt sollte gleichzeitig um zehn losmarschiert werden. Ziel war der Zocalo im Zentrum der Stadt. Ich wollte mit den Leuten mitziehen, die sich an der Medizinischen Fakultät, ca. eine halbe Stunde nördlich des Zentrums trafen.

Als ich dort kurz vor zehn ankam, war keine Menschenseele zu sehen, zumindest niemand, der so aussah, als wolle er zu einer Demo. Was war da wieder schief gegangen? Ich hatte mir doch genau erklären lassen, wo die Abmarschpunkte waren. Da es zu spät war, einen der anderen noch rechtzeitig zu erreichen, lief ich kurz nach zehn langsam in Richtung Zentrum. Irgendwo, spätestens am Zocalo, würde ich schon auf einen der Demozüge stoßen.

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Am Parque „El Llano“ hörte ich laute Sprechchöre aus der Richtung, aus der ich gerade kam. Wenige Minute später hatten mich die Demonstranten eingeholt. Vorneweg fuhr ein alter roter VW Käfer, auf dessen Dach Lautsprecher montiert worden waren. Aus diesen tönten die vorwiegend politischen Forderungen der Lehrer.

Überhaupt hatte ich den Eindruck, daß es bei der Demo nur bedingt um Gehaltsforderungen ging. Eine größere Rolle spielte schon, daß man sich gegen die Schließung von Schulen in den ländlichen Gebieten wehrte. So weit ich allerdings den Reden folgen konnte, drehten die meisten sich um politische Forderungen, wie die Freilassung politischer Gefangener, die Aufklärung des Schicksals verschwundener Aktivisten sowie den Rücktritt Uribes, der für die Niederschlagung des Aufstandes vor zwei Jahren verantwortlich gemacht wird.

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Als wir kurz vor elf auf dem Zocalo ankamen, bot sich ein beeindruckendes Bild. Der Platz glich einem Menschenmeer. Ich hatte Probleme mich zu seiner Mitte, zur Tribüne durchzukämpfen. Zwischen den Bäumen am Rande des Platzes hatte man Transparente mit den Konterfeis von Marx, Engels, Lenin und Stalin aufgepannt. In der Menge waren waren einige rote Fahnen mit Hammer und Sichel zu sehen. Als von von den Rednern auf der Tribüne mit erhobener Faust Kampflieder angestimmt wurden, gingen auch unter den Demonstranten viele Arme in die Höhe, stimmte die Menge ein.

Travestishows und Rappen für die Revolution

Seit zwei Tagen hingen überall in der Stadt Plakate, die zum „Tianguis Cultural“, einem kulturellen Straßenfest, im Parque „El Llano“ einluden. Los gehen sollte es Samstag früh um neun. Ich fragte mich einmal wieder, wer zu so früher Stunde zu einem Straßenfest erscheinen würde. Oder war die Wahl der Anfangszeit dem Klima geschuldet? Hatte man vor, Siesta zu machen und eine längere Pause in der Mittagshitze einzulegen?

Diese Überlegungen konnten mich allerdings nicht bewegen am Wochenende noch früher als unter der Woche aufzustehen. Ich ließ mir Zeit und tauchte das erste Mal gegen Mittag am Ort des Geschehens auf.

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Dort angekommen hatte ich auch den Eindruck, auf keinen Fall zu spät zu sein. Es ging noch ziemlich ruhig zu. Aus riesigen Lautsprecherboxen dröhnte lauter Hip Hop von der CD über den Platz. Diverse Händler hatten sich mit ihren revolutionären T-Shirts – von denen ich mittlerweile auch eins besitze – gut sortierten politischen Buch-, Video- und CD-Sammlungen auf dem Pflaster niedergelassen. Dazwischen standen einigen Tische, an denen Leute saßen und Schach spielten. Das vorwiegend jugendliche Publikum hing ab oder schaute den Sprayern zu, die eigens dafür aufgestellte Wände gestalteten. Ich zog noch einmal los, um am Nachmittag ein zweites Mal vorbei zu schauen.

Dann ähnelte das Ganze schon eher dem, was ich von einem Straßenfest gewohnt bin. Es waren mittlerweile mehr Leute da, unter anderem ein paar von den Demos und dem Treffen letzte Woche bekannte Gesichter. Auf der Bühne tat sich auch schon was. Junge Menschen versuchten sich auf ihren Musikinstrumenten und boten etwas dar, was ich in der Surfecke verorten würde. Als Hintergrundmucke war das sogar richtig nett. Ich ließ mich auf einer Bank nieder und machte ein paar Übungen zum Subjunctivo.

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Aufgewacht aus meiner Wochenendlethargie bin ich, als ich von der Bühne das Wort „Muche“ vernahm. Paola hatte mir von den Muches erzählt, homosexuellen Männern die traditionell ihren festen Platz in den Dorfgemeinschaften der indigenen Völker des Istmo haben. Sie hat im letzten Jahr eines ihrer Feste besucht und auf diesem fotografiert.

In der Regel wohnt ein Muche das ganzes Leben lang bei seiner Mutter. Die Mütter sind deshalb auch alles andere als traurig darüber, wenn einer ihrer Söhne sein Coming out hat. So sind sie jim Alter gut versorgt. Im Dorf werden die Muches wegen ihrer sexuellen Orientierung wohl schon etwas schief angesehen, sind aber als fleißige, in Haushaltsdingen geschickte Arbeiter geachtet.

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Was auf der Bühne dargeboten wurden, wirkte wenig traditionell und erinnerte viel mehr an eine Travestishow. Unterhaltsam war es auf jeden Fall zu sehen, wie der Typ in seinen Stöckelschuhen über die Bühne stolzierte und so tat, als würde er schwülstige Liebesschnulzen ins Mikro hauchen. In den politischen Kontext der Veranstaltung paßte sich die Show insofern ein, daß auf die immer noch existierende Diskriminierung von Homosexuellen hingewiesen wurde.

Danach ging es dann richtig ab. Rapper bestiegen die Bühne und kotzten sich aus über die politische Situation in Oaxaca. Immer wieder kamen die schon von den Demos bekannten Sprüche über die korrupte Regierung, die Forderungen nach deren Rücktritt und die Befreiung der politischen Gefangenen. Und man ließ natürlich auch die revolutionäre Jugend hoch leben und deren heroischen Kampf auf den Barrikaden vor zwei Jahren.
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